‘Abdu’l-Bahá — ein Beispiel für Nächstenliebe und Dienst an der Gesellschaft

'Abdu'l-Bahá war der älteste Sohn Bahá'u'lláhs, des Stifters der Bahá'í-Religion. Nach Dessen Hinscheiden 1892 wurde 'Abdu'l-Bahá berufen, die Angelegenheiten der Bahá'í-Gemeinde weiter zu führen. Er war bekannt und angesehen als Verfechter für soziale Gerechtigkeit und Botschafter für internationalen Frieden. Heute jährt sich Sein Hinscheiden zum 98. Mal.

Am 28. November 1921 verstarb 'Abdu'l-Bahá in Haifa, im heutigen Israel. Die Kunde Seines plötzlichen Hinscheidens verbreitete sich in der ganzen Stadt und rief eine beispiellose Aufregung hervor. Nur einen Tag später fand die Beisetzung statt -- ein Begräbnis, wie es Haifa, ja ganz Palästina, nicht erlebt hatte.

Gouverneure, hohe Staatsbeamte der Regierung, die Oberhäupter der verschiedenen religiösen Gemeinschaften -- Juden, Christen, Muslime - Drusen, die Konsuln verschiedener Länder - Ägypter, Griechen, Türken, Kurden- zahlreiche Seiner amerikanischen und europäischen Freunde, Fremde und Freunde Seines eigenen Landes, Männer, Frauen, Kinder von hohem und niederem Stand, alle, etwa zehntausend an der Zahl, beweinten den Verlust des Meisters, wie sie 'Abdu'l-Bahá auch respektvoll nannten. An diesem Tag waren Menschen aller Religionen, Nationen und Volksstämme im Herzen geeint im Gedenken an das Lebenswerk 'Abdu'l-Bahás.

Wer war 'Abdu'l-Bahá?

Wer war dieser Mann, dem so viel Liebe und Verehrung entgegengebracht wurde - sowohl von einfachen Menschen als auch von bekannten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens?

'Abdu'l-Bahá, 1844 in Teheran, dem heutigen Iran, geboren, war der älteste Sohn Bahá'u'lláhs, des Stifters der Bahá'í-Religion. Er war acht Jahre alt, als er in ein Verlies geführt wurde und Seinen geliebten Vater sah, gebeugt unter dem Gewicht der Ketten. Von diesem zarten Alter an bis zu seinem 64. Lebensjahr verbrachte 'Abdu'l--Bahá gemeinsam mit seiner Familie in Gefangenschaft - davon 40 Jahre in 'Akko, dem heutigen Israel. Er selbst sprach zuweilen davon, dass nur die geistige Kraft es Ihm möglich mache, diese Zeit zu überstehen.

Die Verfolgung begann in Teheran, als Bahá'u'lláh verhaftet und in einem berüchtigten, unterirdischen Verlies eingekerkert wurde, dem sogenannten Siyáh-Chál (zu dt. „ das schwarze Loch"). Hab und Gut der wohlhabenden Familie wurde geplündert. Von dieser Zeit hat 'Abdu'l-Bahá selbst berichtet:

Loslösung bedeutet nicht, dass man mittellos ist; ihr Kennzeichen ist die Freiheit des Herzens. In Teheran besaßen wir abends noch alles, und am nächsten Morgen hatten wir alles verloren; wir hatten nicht einmal mehr zu essen. Ich hatte Hunger, aber es gab kein Brot. Meine Mutter streute mir etwas Mehl auf die Handfläche, und das aß ich statt Brot. Und doch waren wir zufrieden.1

Ich war damals ein Kind von neun Jahren, als die Feinde schreckliche Leiden und Angriffe über uns brachten. Sie warfen so viele Steine in unser Haus, dass der Innenhof voll davon war ... Mutter brachte uns in einem anderen Stadtviertel in Sicherheit, mietete ein Haus in einer Seitengasse, ließ uns nicht aus dem Haus und wachte über uns. Aber eines Tages reichten unsere Vorräte kaum noch aus, und Mutter trug mir auf, zum Haus unserer Tante zu gehen und sie um ein paar Qirans [iranische Silbermünzen] zu bitten ... Ich ging hin und meine Tante tat für uns, was sie konnte. Sie band ein Fünf-Qiran-Stück in ein Taschentuch und gab es mir. Auf dem Heimweg erkannt mich jemand und rief: 'Da ist ein Bábí' -- und die Kinder der Straße jagten mir nach. In einem Hauseingang fand ich Schutz ... Dort blieb ich bis zur Dämmerung. Als ich heraustrat, wurde ich wieder von den Kindern verfolgt, die hinter mir her schrien und mit Steinen nach mir warfen ... Als ich nach Hause kam, war ich am Ende. Mutter wollte wissen, was geschehen war. Ich konnte kein Wort herausbringen und brach zusammen.2

'Abdu'l-Bahá war eine außerordentlich beeindruckende Persönlichkeit - davon zeugen viele zeitgenössische Dokumente aus orientalischer wie europäischer, muslimischer wie christlicher Feder. So schrieb beispielsweise Prof. Edward G. Browne, ein bekannter Orientalist aus Cambridge, der 'Abdu'l-Bahá im April 1890 besucht hatte:

Selten habe ich jemanden gesehen, dessen Erscheinung mir einen tieferen Eindruck gemacht hätte. Es kann nach meiner Meinung kaum jemand gefunden werden, der ausdrucksvoller in seiner Rede, gewandter in seiner Beweisführung und überzeugender in seinen Beispielen gewesen wäre und der gründlichere Kenntnisse gehabt hätte in den heiligen Schriften der Juden, der Christen und der Muslime... Diese Eigenschaften vereinten sich mit einer Haltung, die zugleich majestätisch und gütig war, so dass ich mich nicht mehr über den Einfluss und die Hochschätzung wunderte, die er sogar über den Kreis der Anhänger seines Vaters hinaus besaß. Über die Größe dieses Mannes und seine Macht konnte niemand im Zweifel sein, der ihn gesehen hatte."

'Abdu'l-Bahá -- der Mittelpunkt des Bundes

'Abdu'l-Bahá war eine unersetzliche Stütze Seines Vaters. Häufig trat er als Repräsentant Bahá'u'lláhs auf, wenn es um Kontakte zu offiziellen Stellen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ging. Die Fürsorge für die Armen und Kranken unter den Bürgern 'Akkos wurde zu seiner täglichen Aufgabe, denn die Lebensumstände der Bevölkerung in 'Akko waren in allen Bereichen katastrophal. Er unterstützte die Bedürftigen und sorgte für ihre ärztliche Versorgung. 'Abdu'l-Bahá bezahlte in Haifa einen Arzt dafür, dass er sich um die Armen kümmerte -- der Arzt durfte niemanden sagen, wer für die Unkosten aufkam. Sein caritatives Wirken, gepaart mit Seiner außerordentlichen Liebe zu allen Menschen führte mit der Zeit zu einem Sinneswandel unter der einst feindlich eingestellten Bevölkerung 'Akkos. Bald schon suchten einfache Menschen, aber auch örtliche Vertreter der Regierung in vielerlei schwierigen Fragen Rat bei Bahá'u'lláh und 'Abdu'l-Bahá lenkte den Besucherstrom, in dem Er alle liebevoll empfing und umsorgte.

Als Bahá'u'lláh im Mai 1892 starb, war 'Abdu'l-Bahá immer noch ein Gefangener des osmanischen Reiches. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, durch umfangreiche Briefwechsel die Geschicke der weltweit wachsenden Bahá'í-Gemeinde zu lenken und Gäste wie Pilger aus Ost und West zu empfangen.

Bahá'u'lláh hatte 'Abdu'l-Bahá testamentarisch als Gemeindeoberhaupt eingesetzt und Ihm die Autorität verliehen, die Heiligen Schriften verbindlich auszulegen. Mit dieser eindeutigen, religionsgeschichtlich einzigartigen Maßnahme schützte Bahá'u'lláh den jungen Glauben von Anbeginn an vor Spaltung und Sektenbildung.

Es ist eine unvergleichliche Rolle, welche Bahá'u'lláh Seinem ältesten Sohn 'Abdu'l-Bahá zugewiesen hatte. 'Abdu'l-Bahás einzigartige Gestalt ist das Vorbild für das von Seinem Vater gelehrte Lebensmuster. Er ist zugleich der göttlich inspirierte, bevollmächtigte Interpret Seiner Lehre und der Mittel- und Angelpunkt des Bundes, den der Stifter der Bahá'í-Offenbarung mit allen, die Ihn anerkennen, geschlossen hat.

Bahá'í glauben, dass die Einheit der Bahá'í-Religion auf einem Versprechen Gottes an die Menschheit beruht, das sie Gottes fortwährender Führung nach dem Hinscheiden Bahá'u'lláhs versichert. Dieses Versprechen wird als Bund Gottes bezeichnet.

Das Universale Haus der Gerechtigkeit beschreibt den Bund Gottes mit folgenden Worten:

„Bund im religiösen Sinne ist ein Vertrag zwischen Gott und dem Menschen. Dabei fordert Gott vom Menschen ein bestimmtes Verhalten und verheißt ihm dafür Seine Gnade. Er schenkt dem Menschen gegen das Versprechen, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, seine Wohltaten. So verheißt zum Beispiel der Größere Bund, den jede Manifestation mit den Gläubigen schließt, diesen für die Fülle der Zeit eine neue Manifestation und nimmt ihnen das Versprechen ab, Sie anzuerkennen, wenn Sie erscheint. Daneben gibt es den Kleineren Bund, den eine Manifestation Gottes mit den Gläubigen schließt, damit sie dem von Ihr berufenen Nachfolger folgen. Wenn sie das tun, bleibt der Glaube geeint und rein, wenn nicht, treten Spaltungen ein und die Kraft des Glaubens schwindet dahin. Einen solchen Bund schloß Bahá'u'lláh mit Seinen Gläubigen bezüglich Abdu'l-Bahás, und dieser führte ihn mit der Bahá'í-Gemeindeordnung weiter..."

Die neunundzwanzigjährige Amtszeit 'Abdu'l-Bahás beschenkte die Bahá'í-Welt mit einer leuchtenden Sammlung von Erläuterungen, die vielfältige Einblicke in die Offenbarung Seines Vaters eröffnen.

Die Reisen 'Abdu'l-Bahás

Im Jahre 1908, nach der jung-türkischen Revolution, erlangte er im Alter von 64 Jahren die Freiheit. Diese Freiheit nutzte 'Abdu'l-Bahá, um die noch jungen Bahá'í-Gemeinden in Ägypten, Nordamerika und Europa zu besuchen.

Am 1. April 1913 traf 'Abdu'l-Bahá zu einem Besuch in Stuttgart ein. Dieser Besuch war ein historisches Ereignis für die deutsche Bahá'í-Gemeinde, die erst wenige Jahre zuvor in Stuttgart ihre ersten Wurzeln geschlagen hatte. Mehr über den historischen Besuch 'Abdu'l-Bahás in Deutschland erfahren Sie auf der Website, die 2013 anlässlich der 100-jährigen Wiederkehr seines Besuchs eingerichtet wurde.

Eine so ausgedehnte und in ihren Folgen noch immer nicht auslotbare Reise muss als das singuläre Ereignis bezeichnet werden, welches die Verbreitung und Festigung des Glaubens in der westlichen Hemisphäre prägte.

Er traf mit Menschen aller gesellschaftlichen Schichten zusammen: mit bedeutenden Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik, mit Klerikern, Wissenschaftlern, Künstlern, Schriftstellern und Journalisten - aber auch mit Obdachlosen und Bettlern. Keiner war zu unbedeutend oder zu vornehm, jedem wurde 'Abdu'l-Bahás liebevolle Beachtung zuteil und jeder wurde vom Charme Seines würdevollen Auftretens und der inneren Überzeugung Seiner Seele tief berührt.

Das Hinscheiden 'Abdu'l-Bahás

In einer Botschaft des Universalen Hauses der Gerechtigkeit vom 26. November 2018 lesen wir:

„...zum Gedenken an das Hinscheiden 'Abdu'l-Bahás, wird das Herz jedes Bahá'í durch die Erinnerung an Den bewegt, Der das Geheimnis Gottes ist, der Mittelpunkt des uneinnehmbaren Bundes Bahá'u'lláhs, die Triebfeder für die Einheit der Menschheit, die Verkörperung eines jeden Bahá'í-Ideals, der Mächtigste Zweig Gottes, unter dem alle Zuflucht finden können. Möge Seine grenzenlose Liebe und zärtliche Fürsorge Ihnen Gewissheit und Stärkung geben, während Sie danach streben, das Vertrauen zu rechtfertigen, das Er in Seinem Testament und Seinem Göttlichen Plan in Sie gesetzt hat."

Sein bürgerlicher Name war Abbas Effendi. Nach dem Hinscheiden Bahá'u'lláhs wählte Er aber den Namen „'Abdu'l-Bahá", das bedeutet „Diener Bahás" oder „Diener der Herrlichkeit". Viele Menschen bezeichneten Ihn dennoch ehrerbietig als „Meister" - einer der Titel, die Bahá'u'lláh Ihm verliehen hatte. Menschen gegenüber, die Ihn erhöhen wollten, wies Er nachdrücklich darauf hin, dass Ihm die Bezeichnung „Diener Bahás" zukomme -- dieser Name war für Sein gesamtes Leben Programm.

'Abdu'l-Bahá ist den Bahá'í ein Vorbild, ein Beispiel für hingebungsvolle Nächstenliebe und unermüdlichen Dienst für die Gesellschaft. Durch Sein Leben und Wirken werden Menschen weltweit inspiriert.

Am 28. November begehen die Bahá'í weltweit das Hinscheidens Abdu'l-Bahás und gedenken dieser einzigartigen Persönlichkeit.


  1. Zitert nach Hasan M. Balyuzi, 'Abdu'l-Bahá. Der Mittelpunkt des Bündnisses Bahá'u'lláhs, Bd. 1, S. 31

  2. Zitert nach Hasan M. Balyuzi, 'Abdu'l-Bahá. Der Mittelpunkt des Bündnisses Bahá'u'lláhs, Bd. 1, S. 33