Neue Möglichkeiten durch die Krise — Wie die deutsche Bahá'í-Gemeinde ihre Andachten in den virtuellen Raum verlegt

Es ist der Abend des 19. März 2020 in Leipzig. Normalerweise würden sich die Mitglieder der lokalen Bahá'í-Gemeinde nun in ihrem Bahá'í-Zentrum treffen, um gemeinsam das Ende des Fastenmonats zu feiern. Man würde gemeinsam beten, beraten und dann in geselliger Runde mitgebrachte Speisen und Getränke genießen. An diesem Abend findet das lang geplante Fest jedoch ganz anders statt. Seit einigen Tagen herrscht in der Stadt, wie auch in ganz Deutschland, ein Versammlungsverbot aufgrund der Corona-Krise. Statt gemeinsam in einem Raum, sitzen die einzelnen Familien und Gemeindemitglieder in ihren eigenen Wohnzimmern vor Laptops, PCs oder Handys und treffen sich über eine Software in einem virtuellen Raum. Die moderne Technik macht es möglich, dass die ersten beiden Teile des Festes wie geplant stattfinden können. Und auch der gesellige Teil kommt nicht zu kurz -- kurzerhand holt man sich die Erfrischungen aus der eigenen Küche und unterhält sich digital weiter.

Einen Monat später hat sich die Lage hinsichtlich der Ausgangsbeschränkungen und Versammlungsverbote weder in Leipzig, noch in Deutschland insgesamt verändert. Es sind einzelne Lockerungen für die kommende Woche geplant, die jedoch noch keinen unmittelbaren Einfluss auf das Gemeindeleben der Bahá'í haben. Wie geht die deutsche Gemeinde inzwischen mit der Krise um? Wie beeinflussen die Einschränkungen ihre Aktivitäten?

Sascha Gätzschmann, Mitglied des Nationalen Geistigen Rates der Bahá'í-Gemeinde in Deutschland, beobachtet, dass die deutsche Bahá'í-Gemeinde sich den wissenschaftlichen Erkenntnissen zuwendet sowie den behördlichen Vorgaben, die den allgemeinen Umgang mit der Pandemie in Deutschland regeln. „Die Bahá'í-Gemeinde hat meiner Ansicht nach sehr schnell und konstruktiv auf die neue Situation reagiert", berichtet er. Schon in den ersten Tagen nach der Ausgangsbeschränkung habe es eine Vielzahl an Online-Aktivitäten in den einzelnen lokalen Gemeinden gegeben, an denen auch viele Freunde der Bahá'í teilgenommen hätten. Diese Aktivitäten hätten sich seitdem vervielfacht.

Das trifft besonders auch auf die Andachten zu, die in praktisch jeder Gemeinde stattfinden. Die Andachten sind größtenteils privat organisiert und finden oft im privaten Rahmen statt. Daneben gibt es aber auch Andachten in Bahá'í-Zentren, sowie auf nationaler Ebene die sonntäglichen Andachten im Haus der Andacht von Europa im hessischen Langenhain.

Steffi Krause-Mandler lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Leipzig. Vor Corona machte die Familie eine kleine wöchentliche Familienandacht. „Mit der Krise haben sich bei uns ganz neue Möglichkeiten ergeben", erzählt Frau Krause-Mandler. Während vorher die Kapazitäten gefehlt hätten, weitere Menschen zur Andacht einzuladen, stünde jetzt die Tür dafür offen. Zurzeit lädt die Familie jeden Abend zur gleichen Zeit zu einer Andacht über Skype ein. Viele Mitglieder der Leipziger Gemeinde nehmen daran teil. Allerdings bringt das Online-Medium auch neue Herausforderungen mit sich: „Wir müssen uns in diesem Medium sehr diszipliniert verhalten", berichtet die dreifache Mutter. Durch die Teilnahme vieler Kinder wäre die Chat-Funktion nach der Andacht mit Smileys und Schnappschüssen gefüllt -- gemeinsam mit den Kindern sei es eine gute Lernerfahrung, während der Andacht eine geistige Atmosphäre zu bewahren und die bunten Bilder dann erst hinterher anzuschauen.

„Durch die Einbindung von Familienmitgliedern in Aktivitäten wie diese können ganz neue Potentiale für die Gesellschaft hervorgebracht werden", meint Sascha Gätzschmann. Schließlich sei die Familie die Keimzelle der Gesellschaft. Wichtig sei es, gerade jetzt Eigenschaften zu stärken wie Einheit und Zusammengehörigkeitsgefühl. Dabei könnten gemeinsame Andachten und gemeinsames Bemühen eine Gesellschaft widerstandfähiger machen, selbst unter den aktuellen, einschränkenden Bedingungen.

Bereits seit 12 Jahren findet in Potsdam eine regelmäßige, wöchentliche Andacht bei Familie Towfigh statt. Von Anfang an stand diese Andacht der gesamten Gemeinde und allen Interessierten offen. „Die Andacht ist inzwischen in der ganzen Nachbarschaft bekannt", berichtet Nadi Towfigh. Auch hier ist die Andacht mit Beginn der Krise in einen virtuellen Raum gezogen, auch hier ist die Gastgeberin von den neuen Möglichkeiten begeistert. So hätten bereits Familienmitglieder und Freunde aus Italien und London teilnehmen können sowie Freunde, die schon lange nicht mehr in Potsdam lebten. Auch die Schwiegermutter aus Münster sei regelmäßig dabei. Und doch: „Der private Austausch und die tiefgründigen Gespräche nach der Andacht fehlen natürlich. Da müssten wir die Software noch intensiver nutzen und kleinere Räume speziell dafür öffnen." Auch stimmt sie zu, dass man im virtuellen Raum deutlich strukturierter sein muss. „Es braucht eine gute Moderation, dann kann es super klappen", resümiert Nadi Towfigh.

Für die Zeit nach Corona überlegen sowohl Steffi Krause-Mandler, als auch Nadi Towfigh, zumindest einen Teil des Gelernten weiter anzuwenden. „Wir überlegen noch, ob wir unsere Andacht auch weiterhin über Zoom für Leute von außerhalb zugänglich machen", sagt Nadi Towfigh. Von den Teilnehmern sei der Wunsch danach deutlich geäußert worden. Auch Steffi Krause-Mandler mag den Gedanken des Zugewinns. „Täglich werden wir die Andacht dann nicht mehr anbieten können", sagt sie. „Aber vielleicht wöchentlich."

Bis es soweit ist, werden ihre sowie viele weitere Andachten und andere Aktivitäten der Bahá'í-Gemeinde in Deutschland weiterhin im virtuellen Raum stattfinden. Die großen nationalen Andachten, die nicht nur sonntäglich, sondern auch zu den Feiertagen im Haus der Andacht stattfinden, werden indessen live übertragen; für die Andacht zum 1. Ridván-Tag kann man sich am 19. April um 20:30 Uhr hier einwählen.